This Situation [project participation]

> projekt-mitspiel bei Tino Sehgal | 23.9.–30.10.08 | Hamburger Bahnhof, Berlin


6 wochen harte kunstarbeit im schichtbetrieb. eine mischung aus praktikum in performativer ästhetik, selbstversuch in reflexiver gruppenbildung und subverser mit-autorschaft … ein exkurs in das »produktionsfeld der kunst«, ein abklopfen des immateriell angestrichenen kulturgestells, die suche nach situativen freiräumen in den schalthallen der kultur.

ein paar regeln und ein kanon aufgesammelter zitate aus dem einhelligen raum der mithin kritischen moderne und ihrer vorsprecher ergeben das gerüst für ein theorieimpromptu, das einen so sachen sagen lässt wie: »die idee einer moral als gehorsam gegenüber einem kodex von regeln ist jetzt dabei zu verschwinden, ist bereits verschwunden.«

– oder die scripte führen auf immer neue weise in den »unendlichen regress der fragen: ‘bin ich wirklich glücklich?’, ‘bin ich wirklich selbsterfüllt?’, ‘wer ist das eigentlich, der hier ‘ich’ sagt?«

all dies im gespielten dialog mit den eintritt zahlenden besuchern, die sich zum besuch des »state of the art« in den geweissten hallen ihrer steuerreste einfinden. »nun, es war nie wirklich sehr klar, was die Situationisten eigentlich mit der ‘konstruktion von neuen situationen’ meinten«, wissen die mitspieler von ‘this situation’ zu rezitieren.

>


was war das ergebnis dieses experiments? »kunst auf zeit, von der nichts übrig bleibt als jener flüchtige eindruck, den man sich vor ort machen kann.« schreibt das feulleiton dazu. und hat wie immer recht als gedrucktes beobachtersystem eigenen rechts. es schreibt für die verfolger der grossen kunst, und versäumt die interessanten interventionen und resonanzen im kleinen. kleine gelegenheitsfenster, in denen man mit leuten, die man sonst nie getroffen hätte, über bedeutsame kleinigkeiten reden kann. grosse kleinigkeiten, die manchmal bis zur eigenen biografie oder die zentren der individuellen motivationen und fragestellungen reichen. manche stellen vor unbekanntem publikum 20 jahre ihres lebens öffentlich in frage. …andere, dass sie hier – in unkenntnis der inszenierungsregeln des raumes, der anderen gehört – auf augenhöhe reden können. »die situation, so wird schnell klar, ist die unserer gesellschaft« schreibt das feuilleton – und weiss dabei gar nicht wie recht es hat.

der unterschied, der hier einen unterschied macht – wenn man will: das gimmick – hier, »dass man dabei immer die leicht absurde tatsache im bewusstsein behält, dass man sich gerade mit einer künstlerischen installation unterhält.« oder mit »sechs echten akademikern« wie das echte feuilleton in selbstverachtung border-lined, um sich hier kritisch bis zum äußersten in den selbstbezüglichen monolog der hochkultur einzuschalten. was »sechs echte akademiker« in zeiten des »general intellect«, präkarisierten poststudententums, schattenjagender juniorprofessuren und allgegenwärtiger expertensofas eigentlich ausmacht, will es nicht ausspucken. soweit geht das interesse nicht.

das zitat, die grundeinheit der akademischen hochkultur macht diese situation möglich. ausgesucht nach nicht-akademischen kriterien, dargeboten von 35 engagierten quasi-akademikern, den ‘interpreten’ für eine vorgezeichnete interpretation von »themen aus ökonomie, naturwissenschaften und philosophie«.

überall gilt »niemals von sich selbst sprechen.« zumindest nicht direkt. nur in referenz. der Hamburger Bahnhof als ort der unerwarteten, unwahrscheinlichen und reflexiven dialoge, souffliert von den stimmen der europäischen geistesgeschichte und ihren jüngsten medien. in manchen augenblicken ist das ‘this situation’. dann gilt aber wiederum in diesen hallen der kanonischen kunstverwaltung und der public-private-partnerships mit geschmack: »institutionen sind resultate eines vergangenen prozesses, sie sind angepasst an vergangene umstände und können daher niemals mit den erfordernissen der gegenwart übereinstimmen. auch wenn es ein allgemeinplatz sein mag, die institutionen von heute, sind der heutigen situation nicht vollständig angemessen.« wer wie die hohe kulturverwaltung der ästhetischen postmoderne noch nicht mal aug in aug mit seinen eigenen subalternen »kulturträgern« reden kann, wie soll der mit seinem publikum in eine ernsthafte konversation eintreten?

Michel Chevalier, der leider nicht in Berlin war, aber sich dafür im Hamburger kunstverein herumtreibt, fragt zurecht in die kunstrunde: »when Sehgal says that his actions ‘only function in the closed-off, ritual space of the museum’ it’s hardly clear from which perspective the function-evaluation is taking place.«

am ende gilt wohl dasselbe für konstellationen von situationen und institutionelle milieulandschaften wie für epochen: »jede … träumt ja nicht nur die nächste, sondern träumend drängt sie auf das erwachen hin. sie trägt ihr ende in sich und entfaltet es mit list.« so hoffen zumindest lauter kleine kulturphilosophen. hier ist am ende alles offen geblieben. die list lässt noch auf sich warten und hat den raum wohl nicht verlassen (sofern sie ihn betreten hat).

wahrscheinlich muss man in der schreibenden distanz oder im orbit des feuilletons einwohnen, um zu sehen, dass sich »im aufeinandertreffen von besuchern und Sehgals interpreten »so ein Zusammenspiel entwickele, das keinen regeln folgt, sondern diese erst entwickelt.« jene die fasziniert sind von arrangierten situationen »in denen die kategorien von künstler, werk und betrachter verwischen«, vergessen nicht nur das putz-, wach- und gaderobenpersonal, auf dem alles ausitzt, sondern auch, dass künstler, werke und betrachter oft im wettbewerb um ihre gesellschaftliche aufstellung diese demokratischen dialoge hinzaubern. (positionsspiele, bei denen das feuilleton normalerweise gewinnbringend mitverhandelt). vergessen sind die vorgelagerten gruppierungsprozesse, die jedes ensemble erst formieren und durchziehen, und die bühnensituation bestimmen. rollen verwischen erst da, wo die multiplen linien von front- und backstage durchquert werden. etwas, das man im Hamburger Bahnhof nicht erwarten sollte auch wenn die bühne ein begehbarer raum ist. aber der ausgang führt zurück auf die strasse und in eine gesellschaft, die sich solche spektakel, unter mithilfe von BMW, leistet.

Chevalier verweist auf die symptomatische parallelität einer ‘immateriellen kunst’, eingetreten in die erbverwaltung der kritischen stürmer der moderne, mit einer auf gewisse art sich einstellenden ‘immateriellen ökonomie’, die mittlerweile weniger an handfesten produkten verdient als an ‘commodity complexes’. eine tatsache, die in den wochen von ‘This Situation’ durchaus öfters durchdekliniert wurde. immaterielle kunstprojekte laufen unter diesen umständen gefahr dass sie sich trotz aller pirouetten und entrückten mikro-konversationen in einer übergreifenden bewegung wieder findet – »to integrate… into the state-of-affairs«.

die New York Times konstatiert kritisch: »But Mr. Sehgal, unlike many performance artists, is not protesting the art market itself. His work is specifically conceived to function within the art world’s conventions: it is lent and exhibited, bought and sold. It is sold, in fact — now that Mr. Sehgal is becoming a star in Europe — for five-figure sums.« Und zitiert ihn anschliessend mit »the real politics would be to work on those cultural values and to bring up new ideas of how things could be done.«

wenn heute wieder etwas interessant sein kann an einer resurrektion des ‘immateriellen’ ist es eine neue fokussierung und vision von kollektiven interaktionen. interaktionen auf augenhöhe. interaktionen, die sich ihrer materiellen und sozialen ümstände bewusst bleiben, aber neue räume konstruieren. räume, die sich zwischen situationen und instiutionen ansiedeln, und neue strategische orte bilden, neue arten konstruktiver gruppierung – ohne und gegen die werte monetärer und symbolischer kapitalakkumulation, weil nur so die nachhaltige kollektive prozesse akkumuliert werden können, und die alten institutionalitäten kapitaler kunstproduktion ersetzt.

jeder, der sich in die affirmativen tiefen der eigenen kulturgeschichte zurückzieht, kann wissen: »die art von wohlergehen, die eine angeregte unterhaltung hervorruft, liegt nicht am gegenstand der unterhaltung. weder die ideen, noch das wissen, die hierbei erlangt werden können sind hier von wesentlichem interesse, vielmehr ist sie ein bestimmte art aufeinander einzuwirken.«

eine frage verlässt den raum, wenn man all das gute ernstnimmt, das sich gelegentlich in kleinen portionen und wild gehegten momenten hier eingestellt hat – im schatten des monumentalen gebäudes und einer hyperbolischen kunstmaschine mitsamt ihrer ‘zynischen reflexivität’: wie wäre es, fragt man sich, also mit einer art aufeinander einzuwirken, die sich über eine produktion situativer effekte in taxierten räumen hinwegsetzt und sich nicht an einer reanimation der Kultur mit grossem “k” als einem speraten institutionellen zusammenhang symbolischer kapitalbildung beteiligt?

vielleicht kann man sogar einige stücke der partitur dabei mitnehmen… je dérive.

_»Tino Sehgal an interview.« Tim Griffin. Artforum International. May 1, 2005 (@Free Library) >


_ »Welcome to this Situation: Notes on Being an Artwork«. David Rothenberg >


_»I’m dreaming of a white Christmas…« Tino Sehgal at the Kunstverein in Hamburg by Michel Chevalier @ The Thing Hamburg >


_»You Can’t Hold It, but You Can Own It«. Anne Midgette. New York Times. November 25, 2007 >


_»No pictures, please« . Claire Bishop. Artforum International. May 2005 >


_Tino Sehgal (This Situation @ Hamburger Bahnhof). Christiane Meixner. Tagesspiegel. 14.09.2007 >


_»Tino Sehgal«. Christiane Grefe. Die Zeit #40. 27.09.2007 >