Wege in eine »Weltbildgesellschaft« [text]

 :: text für jahresmagazin | 1105 | 6 s. pdf | mitarbeit mit Ingeborg Reichle

Wege in eine »Bildweltgesellschaft«. Globale Transfer- und Austauschbewegungen verändern die visuelle Kultur (gemeinsam mit Ingeborg Reichle). In: Die Akademie am Gendarmenmarkt 2011/12. Berlin. 2011 (S. 46-50).

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WEGE IN EINE »BILDWELTGESELLSCHAFT«
GLOBALE TRANSFER- UND AUSTAUSCHBEWEGUNGEN VERÄNDERN DIE VISUELLE KULTUR
Von Ingeborg Reichle unter Mitarbeit von Oliver Lerone Schultz

Mit der Entstehung neuer bildgestützter Informations- und Kommunikationskanäle haben Bilder aus unter- schiedlichsten Kontexten in den letzten zwei Jahrzehnten eine bis dahin ungeahnte globale Verbreitung und universale Verfügbarkeit erfahren und damit ihren Rezipientenkreis und Geltungsbereich enorm vergrößert. Hinzu kommen Digitalisierung und Medienkonvergenz im stetig wachsenden Bereich der Konsumentinnen und Konsumenten, die selbst immer mehr Bilder produzieren, sei es im Alltag oder als sogenannte »Prosumer« (Konsumierende, die die neuen Technologien in anspruchsvoller, oft semi-professioneller Weise nutzen). Nach Aussage des Fotoindustrie-Verbandes (CIPA) werden im Jahr 2011 unvorstellbare 131 Millionen digitale Kameras verkauft – seit 2007 liegt diese Zahl kontinuierlich über 100 Millionen. Hinzu kommt – als Beispiel für die Durchschlagskraft der Medienkonvergenz – eine noch größere Anzahl verkaufter Mobiltelefone, die heute standardmäßig über Fotofunktionen verfügen und die Ubiquität und Veralltäglichung der Bildproduktion enorm forcieren.

(i): yhancik @ flickr (cc)


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Internetplattformen wie youtube, flickr oder myspace sind Zeugen der Entstehung globaler Bildkulturen, deren künstliche digitale Bildwelten sich so einfach erzeugen wie auch manipulieren lassen und zwischen Homogenisierungs- und Partikularisierungstendenzen oszillieren. Vor diesem Hintergrund erforscht die Interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Bildkulturen« die globalisierten Transfer- und Austauschbewegungen von Bildern verschiedener Kulturen. Mit der Umbildung des Kulturellen gerät auch der Begriff der Kultur und seine Konzeption erneut auf den Prüfstand und wird neu durchleuchtet. Insbesondere das Konzept der Transkulturalität unterstützt dabei die Erforschung der Neubestimmung globaler Bildkulturen und von »global images«, da Kulturen nicht mehr als au- tonome Inseln beziehungsweise als voneinander abgrenzbare geschlossene Kugeln beschrieben werden, sondern als hybride Gebilde mit weitläufigen Verflechtungen. Eine vergleichende Untersuchung von Bildkulturen erscheint mehr denn je notwendig, da die Digitalisierung der ge- genwärtigen Bildwelten sowie deren globale und mediale Entfaltung das etablierte wissenschaftliche Denk- und Erfahrungssystem vor große Herausforderungen stellt.
Der Prozess der zunehmenden Globalisierung und Verflechtung fast aller Lebensbereiche betrifft nicht nur Bereiche wie Wirtschaft, Politik, Kultur, Umwelt und Kommunikation, sondern schließt den der visuellen Kultur mit ein. Jüngste Diskussionen, wie die um Netzkultur und Netzwerkgesellschaft oder »digital cultures« und Kulturen als Sphären oder Ströme, zeugen von diesem Reflexions- und Aktualisierungsbedarf. In dem Maße, in dem die Fotografie (zusammen mit Medien wie Fernsehen und Film) als Leitmedium des 20. Jahrhunderts das Bild von der Welt und den Blick auf die Welt verändert und bestimmt hat, geschieht dies gegenwärtig durch die vi- suelle Kultur des digitalen Zeitalters, in dem Massen- und Unterhaltungsmedien im Zusammenspiel mit visuellen Navigationssystemen – wie Google Earth und GPS – inzwischen zum Alltag gehören. Neue Formen des Bildlichen wie Mash-Up-Videos (Videos mit ineinander gemischten Bild- und Tonspuren von zwei oder mehreren Ausgangs- videos), Augmented - Reality - Anwendungen (Einblendungen von computergenerierten Bildern und Informationen im menschlichen Wahrnehmungsraum) oder die »culture of the screen« (eine von der Allgegenwärtigkeit der Bildschirme geprägte Kultur) sind gerade erst im Entstehen und harren noch einer bildwissenschaftlichen Charakterisierung und Klassifikation. Auch entstehen durch das Hinzutreten ständig neuer medialer Formate neue Komplexitäten: Bildkulturen moderner Gesellschaften sind in sich bereits so hochgradig differenziert, dass selbst innerhalb eines Kulturkreises nicht mehr von einem einheitlichen Bild- und Mediengebrauch gesprochen werden kann. Die innere Differenziertheit und Komplexität der gegenwärtigen Bildkulturen divergieren zusätzlich regional, sozial und funktional – und unterscheiden sich zudem in ihren wissenschaftlichen, technischen, künstlerischen oder religiösen Besonderheiten. Ein Umstand, der – trotz all der technischen und infrastrukturellen Neuerungen – die klassischen Disziplinen wie vergleichende Religionsgeschichte, Soziologie, Wissenschaftsgeschichte, Kunstgeschichte etc. erneut zu kritischen Repertoires der Be- und Verarbeitung dieser Wandlungsprozesse werden lässt. Und doch ist festzuhalten, dass die veränderten globalen Bedingungen gegenwärtiger Bildproduktion und -rezeption einen Gegensatz zwischen fremder und eigener Bildkultur kaum mehr zulassen beziehungsweise zu neuen Aushandlungsprozessen von Eigenem und Fremden führen.

(i): Adbusters


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Der Streit um die Karikaturen des islamischen Propheten und Religionsstifters Mohammed, die 2005 von einer dänischen Zeitung in Auftrag gegeben und publiziert wurden, zeigt jedoch, dass die transkulturelle Dimen- sion des Zusammenspiels von Bild und Kultur nach wie vor überaus komplex bleibt und zudem auch von negativen und widersprüchlichen Effekten begleitet sein kann. Kulturelle oder ideologische Konflikte, die über Bilder oder mit Hilfe von Bildern ausgetragen werden, haben zwar weit in die Geschichte zurückreichende Traditionen, doch zeigt sich gerade in den gegenwärtigen Debatten wie dem Karikaturenstreit, dass Bilder stets vor dem sie hervorbringenden kulturellen Hintergrund zu betrachten sind und eine immer größere Rolle bei der Aushandlung umstrittener kultureller Deutungen und Sinnproduktionen erhalten. Durch ihre – vermeintlich – globale Lesbarkeit bekommen sie eine eminente Rolle in der Neugestaltung globaler sozialer Verhältnisse zugewiesen. Auf der einen Seite ist die Produktion und Rezeption von Bildern aufgrund der Digitalisierung und Vernetzung immer dynamischeren Prozessen von Überschneidungen und Verschmelzungen unterworfen – ein Umstand der zu Homogenisierungstendenzen führt. Auf der anderen Seite ist deren Produktion und Rezeption jedoch nach wie vor an partikulare, teilweise miteinander konkurrierende (oder kooperierende) Kulturräume rückgebunden, sind Bildbedeutungen also weiterhin nicht von ihrem kulturellen Produktions- und Rezeptionskontext ablösbar. Gemessen an ihrer kulturellen Dimension entfalten Bilder in diesem Sinne – so eine Grundeinsicht der Interdisziplinären Arbeitsgruppe – niemals eine universelle Geltung, auch wenn die Betonung der Universalität von Bildern von Befürworterinnen und Befürwortern einer »Bildweltgesellschaft« gern angeführt wird. Dies ist vor dem Hintergrund der immer wieder aufflackernden Diskurse um »global images« und »global icons« sowie einer Weltgesellschaft und -kultur genauso in der akademischen Verhandlung neuer Bildwirklichkeiten hervorzuheben wie innerhalb der    öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Wahrnehmung, die schnell dem Eindruck einer globalen und homogenisierten Mediengesellschaft erliegt.

(i): Andrew Bulhak@ flickr (cc)


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Neben kritischen Bemerkungen und Akzenten kann auf dem Boden der gewonnenen Einsichten aber auch verhalten Optimistisches in die gesellschaftlichen Debatten zurückgespiegelt werden. Etwa werden durch die globale Vernetzung und durch die Möglichkeit der Distribution vielfältigster visueller Praktiken heute Bildkulturen (teilweise: wieder) sichtbar, die bislang nur am Rande wahrge-nommen wurden. Allerdings, so ein weiterer zentraler Ansatzpunkt unserer theoretischen Bearbeitung, wird dabei eine Abbildungstechnik favorisiert (sozusagen durch die Hintertür wieder eingeführt), die andere Kulturtechniken der Bilderzeugung – und damit Weltsichten– ins Hinter- treffen geraten lässt. Das geschieht durch die Dominanz digitaler Produktionsverfahren bei der Herstellung des Großteils der global zirkulierenden Bilder, also etwa durch die eingangs erwähnten Digitalkameras, Camcorder oder bildfähigen Mobiltelefone. Dieser Umstand legt auch eine dezidiert transkulturell ausgerichtete Diskussion der perspektivischen Abbildungstechnik nahe: Zu den maßgeblichen jüngeren bildmedialen Entwicklungen gehört, dass sich mit dem zentralperspektivischen Verfahren, welches inzwischen als Grundlage zur Erzeugung von kultur- unabhängig »realistischen« Bildern gilt, ein bestimmtes Abbildungsverfahren scheinbar kulturübergreifend und weltweit durchgesetzt hat.
Die inzwischen unübersehbare globale Präsenz der Zentralperspektive kann als Testfall für die hier vorgestellten Grundannahmen der Interdisziplinären Arbeitsgruppe »Bildkulturen« dienen: Lässt sich angesichts dieser Entwicklungen überhaupt noch die Rede von unterschiedlichen Bildkulturen legitimieren oder hat sich in der jüngsten Zeit eine einzige Bildkultur weltweit durchgesetzt, so dass die diversen Bildkulturen der Vergangenheit in eine einzige Bildkultur der Zukunft überführt werden?
In jedem Fall kann in bildwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit der »Bildweltgesellschaft« davon ausgegangen werden, dass eine Perspektive des Transitiven und das qualifizierende Präfix »trans-« um die vor unseren Augen neu entstehenden Wirklichkeiten eine relativ hohe Diskursbeständigkeit haben wird. Ebenso sicher ist, dass die historisch-kulturelle Evolutionslinie im Sinne eines »Fading Over« und der Überblendung und Transformation historischer Weltbilder in eine heraufziehende »Bildweltgesellschaft« gerade erst beginnt.